Verschwörungstheorie für Anfänger

Neulich habe ich noch mal Watzlawicks "Anleitung zum Unglücklichsein" gelesen und dabei u.a. einen sehr amüsanten, aber gleichzeitig auch überaus plastisch-lehrreichen Teil (wieder)entdeckt, der uns die eigenkreative und selbstbeeinflussende Konstruktion von - in diesem Fall "unglücklichen" - Wirklichkeiten vor Augen führt. In der aktuellen Phase der Hochkonjunktur von Verschwörungstheorien im Kontext der Corona-Pandemie lässt sich das Ganze aber auch als eine ironisch-entlarvende Anleitung für Verschwörungstheoretiker*innen lesen. Viel Spaß dabei:

 

Übung Nr. 1: Setzen Sie sich in einen bequemen Sessel, möglichst mit Armstützen, schließen Sie die Augen, und stellen Sie sich vor, in eine saftige Zitrone zu beißen. Mit etwas Übung wird Ihnen die imaginäre Zitrone bald das wirkliche Wasser im Munde zusammenlaufen lassen.

 

Übung Nr. 2: Bleiben Sie im Sessel sitzen, weiterhin mit geschlossenen Augen, und verschieben Sie Ihre Aufmerksamkeit von der Zitrone auf Ihre Schuhe. Es dürfte nicht lange dauern, und Sie werden bemerken, wie unbequem es eigentlich ist, Schuhe zu tragen. Gleichgültig, wie gut sie bisher zu passen schienen, Sie werden nun Druckpunkte bemerken und sich plötzlich auch anderer Unannehmlichkeiten bewußt werden, wie Brennen, Reiben, Krümmen der Zehen, Hitze oder Kälte und dergleichen. Üben Sie, bis das bisher selbstverständliche und bedeutungslose Tragen von Schuhen ausgesprochen unangenehm wird. Kaufen Sie sich dann neue Schuhe, und bemerken Sie, wie sie im Laden einwandfrei zu passen schienen, nach kurzem Tragen aber derselben Beschwerden erzeugen wie die alten.

 

Übung Nr. 3: Im Sessel sitzend, blicken Sie bitte durchs Fenster in den Himmel. Mit etwas Geschick werden Sie in Ihrem Blickfeld bald zahlreiche winzige, bläschenartige Kreise wahrnehmen, die bei Stillhalten der Augen langsam nach unten sinken, beim Zwinkern aber wieder hinaufschnellen. Bemerken Sie ferner, daß diese Kreise immer zahlreicher und größer zu werden scheinen, je mehr Sie sich auf sie konzentrieren. Erwägen sie die Möglichkeit, daß es sich um eine gefährliche Erkrankung handelt, denn wenn die Kreise einmal Ihr ganzes Gesichtsfeld ausfüllen, werden Sie äußerst sehbehindert sein. Gehen Sie zum Augenarzt. Er wird Ihnen zu erklären versuchen, daß es sich um die ganz harmlosen mouches volantes handelt. Nehmen Sie dann entweder an, daß er die Masern hatte, als diese Krankheit in der Universitäts-Augenklinik den Medizinstudenten seines Jahrgangs erklärt wurde, oder daß er sie aus reiner Nächstenliebe nicht vom unheilbaren Verlauf Ihrer Krankheit informieren will.

 

Übung Nr. 4: Sollte die Sache mit den mouches volantes nicht recht klappen, so brauchen Sie die Flinte noch nicht gleich ins Korn zu werfen. Unsere Ohren bieten eine gleichwertige Ausweichlösung. Gehen Sie in einen möglichst stillen Raum, und stellen Sie fest, daß Sie plötzlich ein Summen, Surren, leichtes Pfeifen oder einen ähnlichen gleichbleibenden Ton in Ihren Ohren feststellen können. Unter normalen Alltagsbedingungen ist der Ton zwar durch die Umweltgeräusche überdeckt; mit entsprechender Hingabe dürften Sie es aber fertigbringen, den Ton immer häufiger und lauter wahrzunehmen. Gehen Sie schließlich zum Arzt. Von hier ab gilt Übung Nr. 3, mit der Ausnahme, daß der Arzt die Sache als normalen Tinnitus verharmlosen wollen wird. […]

 

Übung Nr. 5: Sie sind nun hinlänglich ausgebildet und offensichtlich auch talentiert, um Ihre Fähigkeiten vom eigenen Körper auf die Umwelt zu übertragen. Beginnen wir mit den Verkehrsampeln. Sie dürften bereits bemerkt haben, daß sie die Neigung haben, so lange grün zu sein bis Sie daherkommen, und dann genau zu jenem Zeitpunkt von gelb auf rot zu wechseln, an dem Sie es nicht mehr riskieren können, doch noch über die Kreuzung zu fahren. Widerstehen Sie den Einflüsterungen Ihrer Vernunft, wonach sie mindestens ebensooft auf grüne wie auf rote Ampel stoßen, und der Erfolg ist verbürgt. Ohne zu wissen, wie Sie es eigentlich fertigbringen, werden Sie jede rote Ampel zum bereits erlittenen Ungemach addieren, jede grüne dagegen ignorieren. Sehr bald werden Sie sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß hier höhere, Ihnen feindlich gesinnte Mächte ihr Unwesen treiben, deren Einfluß sich außerdem keineswegs auf Ihren Wohnort beschränkt, sondern Ihnen mühelos nach Oslo oder Los Angeles folgt. – Sollten Sie nicht Auto fahren, so können Sie ersatzweise entdecken, daß die Schlange, in der Sie vor dem Post- oder Bankschalter stehen, immer die langsamste ist oder daß Ihr Flugzeug immer an dem von der Schalterhalle am weitesten entfernten Ausgang wartet.

 

Übung Nr. 6: Sie wissen nun um das Walten dunkler Mächte. Dieses Wissen ermöglicht Ihnen nun weitere wichtige Entdeckungen, denn Ihr Blick ist nun geschärft für erstaunliche zusammenhänge, die der dumpfen, ungeschulten Alltagsintelligenz entgehen. Untersuchen Sie Ihre Haustüre sorgfältig, bis Sie einen Kratzer finden, den Sie bisher noch nie gesehen haben. Fragen Sie sich nach seiner Bedeutung: Ist es ein Gaunerzinken, das Resultat eines Einbruchs, eine absichtliche Beschädigung Ihres Eigentums, ein besonderes Zeichen, um Sie irgendwie zu identifizieren? Widerstehen Sie auch hier der Versuchung, die Sache zu bagatellisieren; begehen Sie aber andererseits auch nicht den Fehler, ihr praktisch auf den Grund zu gehen. Behandeln Sie das Problem rein gedanklich, denn jede Wirklichkeitsprüfung Ihrer Annahme wäre dem Erfolg dieser Übung nur abträglich.

Wenn Sie durch diese Übung Ihren eigenen Stil entwickelt und Ihren Blick für mysteriöse Zusammenhänge geschärft haben, werden Sie bald bemerken, bis zu welchem Grade unser Alltag von solchen schicksalsträchtigen Verflechtungen durchzogen ist. Nehmen wir an, Sie warten auf den Autobus, der schon längst da sein sollte. Sie vertreiben sich die Zeit, indem Sie die Zeitung lesen, aber immer wieder den blick die Straße hinunterwerfen. Plötzlich sag Ihnen der sechste Sinn: „Jetzt kommt er!“ Sie drehen sich rasch hin, und tatsächlich, in der Ferne, noch mehrere Häuserblocks entfernt, ist der Autobus aufgetaucht. Erstaunlich, nicht wahr? Und doch ist das nur ein kleines Beispiel aus der Vielfalt der Hellsichtigkeiten, die sich langsam in Ihnen ausbilden und dort am wichtigsten sind, wo sich alles mögliche für Sie Nachteilige abzeichnet.

 

Übung Nr. 7: Sobald Sie hinlänglich überzeugt sind, daß etwas Verdächtiges vorgeht, besprechen Sie es mit Freunden und Bekannten. Es gibt keine bessere Methode, um die wahren Freunde von den Wölfen im Schafspelz zu trennen, die in undurchsichtiger Weise da mit im Spiel sind. Jene werden sich nämlich trotz – oder gerade wegen – ihrer Geriebenheit dadurch verraten, daß Sie Ihnen einreden wollen, Ihre Annahme habe weder Hand noch Fuß. Für Sie wird das keine Überraschung sein, denn es versteht sich von selbst, daß, wer Ihnen schaden will, das nicht offen zugibt. Er wird Sie vielmehr scheinheilig von Ihrem angeblich unbegründeten Verdacht abbringen und von seinen guten, freundlichen Absichten zu überzeugen versuchen. Und damit wissen Sie nicht nur, wer mit im Komplott drinsteckt, sondern auch, daß die ganze Sache wirklich etwas sein muß, denn warum würden jene „Freunde“ sich sonst so anstrengen, Sie vom Gegenteil zu überzeugen?“

 

aus: Watzlawick, Paul (1983): Anleitung zum Unglücklichsein. München, S. 40-46.

 

 

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