Führung mit und ohne Macht?

Macht als Thema in Coaching und Supervision

 

In einem Workshop „Macht als Thema im und für Coaching“[1] hat es eine für mich sehr eindrückliche Einstiegsrunde gegeben, in der die Teilnehmenden zum Teil sehr berührende persönliche Erfahrungen mit dem Thema „Macht“ geteilt haben. Da ging es um die Erinnerung an die Schulzeit, in der ein Lehrer „aus pädagogischen Gründen“ eine 6 als Note gibt, oder an die Oma im Hause, die sehr machtvoll bestimmte, „wo es lang geht“, ebenso welche emotionale Macht Demonstranten durch friedliches gemeinsames Singen erzielen können usw. Diese Eindrücke haben bei mir Spuren hinterlassen und mich dazu veranlasst, noch einmal selbst über das Thema „Macht“ zu reflektieren. Dabei habe ich mich an ein eigenes Schlüsselerlebnis zurückerinnert: Vor einigen Jahren habe ich an einer Fachtagung zu Personal- und Organisationsentwicklung teilgenommen, auf der u.a. auch ein Referent zum Thema „Macht“ in der Personalführung referierte. Irgendwann warf er die Frage auf, wer denn im Plenum dächte, dass es für die Führung keiner Macht bedürfe. Zu meiner Überraschung zeigte etwa die Hälfte der Teilnehmenden (überwiegend Geschäftsführungen, PersonalerInnen und sonstige Leitungskräfte aus der Sozialwirtschaft) auf. Das hat mich damals überaus erstaunt und nachdenklich gemacht. Ich war davon ausgegangen, dass „Führung“ und „Macht“ regelmäßig zusammen gedacht würden, hatte mich aber offensichtlich darin getäuscht. Die Überlegungen, die ich seinerzeit angestellt und nun durch den og. Workshop noch einmal reflektiert und aktualisiert habe, möchte ich im Folgenden kurz darstellen.

 

In der klassischen Definition von Max Weber wird Macht definiert als die „Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“[2] In Bezug auf Führungshandeln definiert Mintzberg ähnlich: „Macht ist die Fähigkeit, Ergebnisse in Organisationen zu bewirken oder zu beeinflussen.“[3] Macht stellt somit ein notwendiges Steuerungsmedium in Organisationen dar. Sie wird in der Regel formal über entsprechende Positionen und Funktionen geregelt.

 

Funktional dient Macht in Organisation der „Unsicherheitsadsorbtion“[4], also Komplexität zu reduzieren und Kommunikation zu verkürzen bzw. „überflüssig zu machen.“[5] Durch Macht wird in Organisationen geregelt, wie, wann und durch wen welche Entscheidungen getroffen werden können. Sie gewährleistet dadurch die Handlungsfähigkeit von Organisationen, schafft klare Verfahren und damit Stabilität und Effizienz und sie regelt Konfliktfälle. Umgekehrt droht Organisation die (partikulare) Handlungsunfähigkeit, wenn die Entscheidungskompetenzen nicht geregelt sind. Die gilt besonders, für Konflikt- und Krisenfälle. „Deswegen kann die Macht eines Akteurs mit seiner Möglichkeit, Unsicherheit oder Ungewissheit für andere Akteure zu erzeugen und zu beseitigen, korreliert werden.“[6]

 

Die beschriebene Funktion von Macht macht deutlich, weshalb das Fällen von Entscheidungen üblicherweise als eine wesentliche Funktion von Führung beschrieben wird. In dieser Notwendigkeit besteht „einer der wichtigsten Gründe dafür, dass es überhaupt Führungspositionen gibt. Funktionierte die Welt logisch konsistent, könnten simple Computer den Job tun. Gerade weil es die Widersprüche, Vertracktheiten und Sackgassen gibt, besteht ein Bedarf für jenes unkonventionelle, unberechenbare und kreative Handeln, das ´Führung´ genannt wird.“[7]

 

Der Gedanke, dass Führung quasi „ohne Macht“ agieren könne, erscheint mir vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen geradezu skurril. Ruth Seliger bringt es auf den Punkt: „Führung ist eine Machtposition“[8] (Herv. A.R.). „Ohne Macht ist Führung wirkungslos.“[9] Dass aber der Gedanke überhaupt entsteht, das Macht und Führung voneinander trennbar sei, hat wahrscheinlich vor allem damit zu tun, dass „Macht“ in unserem Sprachgebrauch in sehr starkem Maße den Frame „Machtmissbrauch“ transportiert. Dies gilt vermutlich in besonderem Maße im Sozialen Bereich, in dem traditionell und professionsbedingt Werte wie Gerechtigkeit und Teilhabe einen hohen Stellenwert innehaben und eine hohe Sensibilität gegenüber Machtgefügen und deren Missbrauch besteht. Hierin liegt aus meiner Sicht aber genau die Herausforderung zwischen dem Medium Macht und dessen Funktionalität auf der einen Seite und destruktiven und missbräuchlichen Formen des Gebrauchs und der Verteilung deutlich zu unterscheiden. „Macht“ ist an sich weder gut noch schlecht. Eine ethische Dimension beinhalten hingegen sehr wohl die Fragen, nach ihrer Legitimierung, Verteilung und Ausübung. Es kann m.E. nicht die Frage sein, ob es Macht zur Führung bedarf. Begründungsbedürftig ist allerdings durchaus, wer, wie viel davon, für welche Zwecke durch wen zugebilligt bekommt und durch welche Mechanismen dies kontrolliert wird. Macht, um es noch einmal deutlich zu sagen, spielt dabei nicht nur in hierarchisch strukturierten Organisationen eine Rolle. Auch etwa eine basisdemokratische oder holokratische Organisationsform muss definieren, wer welche Entscheidungskompetenzen bekommt. Selbst Konsensverfahren o.ä., definieren eine Machtverteilung. Sie ist dort nur anders verteilt als in z.B. in streng hierarchischen Organisationsformen.

 

Bis hierhin habe ich mich auf formale Machtstrukturen konzentriert. Darüber hinaus sind auch Formen informeller und struktureller Macht und Machtverteilungen zu beachten. Der Zugang zu unterschiedlichen Machtquellen ist nach Staub-Bernasconi[10] eine wesentliche Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Diese sind jedoch ungleich verteilt. Das gilt sowohl mit Sicht auf die Makro-Ebene i.S. von Gesellschaft als auch auf die Meso-Ebene i.S. von Organisation oder Team. Dies lässt sich auch aus einer interaktionistischen Sicht betrachten: Macht ist „eine Austauschbeziehung, die zwar asymmetrisch, aber stets wechselseitig ist.“[11] Diese Austauschbeziehung entfaltet ihre Wirksamkeit auch jenseits formaler Legitimierung: über Wissensvorsprung, materielle Ressourcen, soziale Netzwerke, Autorität, Körperlichkeit etc. Dies gilt grundsätzlich für jede soziale Beziehung und gestaltet sich potenziell kritisch, je ungleicher der Zugang zu Machtquellen verteilt ist. Es wäre daher ein fataler Trugschluss, Macht ließe sich aus sozialen Systemen als Wirkfaktor ausschließen. Machtverhältnisse sind immer wirksam. Die Frage ist lediglich, wie sie kommuniziert und geregelt werden.

 

Für die Gestaltung von Führung gilt es schließlich, die Verteilung von Macht und deren Wirkmechanismen zu reflektieren: „Erst die Reflexion, Kommunikation und Beschränkung von Macht zeichnen professionellen Umgang mit Macht aus.“[12] Die zentrale Herausforderung für eine „gute“ Führungskraft-Mitarbeiter-Beziehung, liegt somit darin, die eigene „innere Haltung fortlaufend im Blick zu haben und sie auf einen achtungsvollen Umgang hin zu kalibrieren.“[13] Dabei kann die Herausforderung – ähnlich wie in einer Beratungsbeziehung – in der Herstellung personaler Symmetrie bei gleichzeitiger funktionaler Asymmetrie gesehen werden, also der „gleichwürdigen“[14] Begegnung als Person bei gleichzeitig ungleicher Verteilung von Macht.

 

Soweit Machtverhältnisse und Machtausübung von Führungskräften allerdings negiert bzw. ausgeblendet werden, werden sie gleichzeitig der Kommunikation und damit der Reflexion und Kontrolle entzogen. Aufgabe von Coaching und Supervision ist es meines Erachtens, diese Zusammenhänge zu verdeutlichen und einem reflektierten Umgang mit den vorhandenen Machtverhältnissen zugänglich zu machen.



[2] Weber, Max (1922): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen, S. 28.

[3] Mintzberg 1983, zit. n. Kauffeld, Simone / Ianiro-Dahm, Patrizia M. / Sauer, Nils Christian (2019): Führung. In: Kauffeld, Simone (Hg.): Arbeits-, Organisations- und Personalpsychologie für Bachelor 3. Aufl., S. 105-138.

[4] Simon, Fritz B. (2019): Einführung in die systemische Organisationstheorie. 7. Aufl., Heidelberg, S. 90.

[5] A.a.O.

[6] A.a.O.

[7] Blessin, Bernd / Wick, Alexander (2021): Führen und führen lassen. 9. überarb. u. erw. Aufl., Tübingen, S. 506.

[8] Seliger, Ruth (2018): Das Dschungelbuch der Führung. Ein Navigationssystem für Führungskräfte. 7. Aufl., Heidelberg, S. 120.

[9] Seliger, Ruth (2014): Positiv Leadership. Stuttgart, S. 159.

[10] Staub-Bernasconi, Silvia (1998): Soziale Probleme – Soziale Berufe – Soziale Praxis. In: Heiner, Maya u.a.: Methodisches Handeln in der sozialen Arbeit. 4., erw. Aufl., Freiburg i.B., S. 11-137.

In ähnlicher Weise beschreibt Bourdieu die ungleiche Verteilung „sozialen Kapitals“. Vgl. Bourdieu, Pierre (1998): Praktische Vernunft: Zur Theorie des Handelns. Frankfurt a.M.

[11] Kühl, Stefan (2023b): Der ganz formale Wahnsinn. München, S. 151.

[12] Seliger 2018, S. 123.

[13] Erpenbeck, Mechthild (2018): Wirksam werden im Kontakt. Die systemische Haltung im Coaching. 2. Aufl., Heidelberg, S. 27.

[14] Juul, Jesper (2019): Dein kompetentes Kind. 16. Aufl., Reinbeck bei Hamburg.

 

 

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