Beratenden sind systemisch-lösungsfokussierende Frageformen geläufig und gehören mittlerweile bei den meisten zum Grundhandwerkszeug, unabhängig ob sie einer systemischen Grundhaltung folgen oder einem anderen Ansatz. Dies gilt somit auch für die sogenannten „Hypothetischen Fragen“, über deren Sinn und Zweck ich mich hier ein wenig auslassen möchte.
Hypothetische Fragen haben die Intention, die Befragten in eine gedankliche Situation zu versetzen, in der sie sich aktuell nicht befinden, fordern sie also auf, sich „hypothetisch“ in diese hineinzuversetzen. In der klassischen Form wird das durch typische Formulierungen wie „angenommen, …“, „stellen Sie sich vor, dass …“, „tun Sie mal so, als ob …“ etc. umgesetzt, z.B.:
„Angenommen, Ihr Problem, das Sie hierhergeführt hat, wäre schon gelöst, was wäre dann anders?“
„Stellen Sie sich mal vor, es käme eine ´Super-Nanny´ jetzt zu uns – was würde die Ihnen raten, jetzt zu tun?“
Aber wieso stellen wir solche Fragen, was haben Sie für einen Zweck und was bewirken sie? Durch diese Fragen wird eine hypothetische Situation in der Zukunft, häufig ein Ziel oder eine Lösung, gedanklich vorweggenommen, um so eine „Lösungstrance“ zu induzieren und einen Lösungsweg vorstellbar zu machen. Zur Verdeutlichung der Wirkungsweise verhilft Watzlawicks „As If – Theorie“[1]:

Der übliche Weg in einer Beratung führt von einem „Problem“ (oder Anlass der Beratung) zu einer solchen Lösung. Dabei liegt der Zeitpunkt des Problems im Hier und Jetzt (T 0) und die Lösung in einem Zeiptunkt irgendwann später in der Zukunft (T 1), also z.B. am Ende einer Sitzung, eines Beratungsprozesses oder …. Die hypothetische Frage tut nun so, als ob die Lösung schon exisitieren würde und springt („beamt“) gedanklich an einen Zeit Punkt nach der Lösung (T 2). Von diesem hypothetischen Blinkwinkel aus, kann man nun zurückschauen und fragen, wass sich geändert hat und was voher möglicherweise passiert sein könnte?! Durch diese gedankliche Vorwegnahme ist zwar streng genommen noch kein Weg zur Lösung gefunden, aber die Sichtweise darauf kann sich radikal verändern. Und solange man nur hypothetisch spekuliert, wie es „dann“ anders wäre und welche Möglichkeiten das eröffnen könnte, darf man sich ja auch irren. Die vermeintliche Ernsthaftigkeit der „echten“ Lösungssuche kann für diesen Moment etwas außer Acht gelassen werden. Die Schwere der aktuellen Belastung kann sich vermindern, die verengte Sichtweise und das häufige Gefühl der verlorenen Selbstwirksamkeit veflüchtigen sich an diese hypothetischen Position häufig. Das kreative und spielerische Moment in der Lösungssuche kann eher wieder raumgreifen. Man „tut“ ja schließlich nur so als ob … Steve De Shazer würde sagen: es findet ein Perspektivwechsel von der „Problemtrance“ zur „Lösungstrance“ statt.
Gleichzeitig kann sich die Befragte möglicherweise schon ein wenig wieder einfühlen, wie es wäre, wenn sie sich tatsächlich wieder im Lösungsraum befände. Das kann motivierende Wirkung haben. Für Gunther Schmidt sind solche Fragen „Einladungen zu Imaginationen“.[2] Das lässt sich ganz besonders am Beispiel der hier besprochenen hypothetischen Fragen verdeutlichen. Als Ziel formuliert Schmidt in diesem Zusammenhang: „Wesentlich wichtiger als z.B. ´das Problem zu verstehen´, erscheint es deshalb, die Lösung zu verstehen, d.h., sich so konkret als irgend möglich ein sinnlich detailliertes Bild von den angestrebten Entwicklungszielen zu machen.“[3] Diese gilt es dann durch weiteres umfassendes exploriendes Fragen möglichst intensiv herauszuarbeiten und geradezu (körperlich) spürbar werden zu lassen. Damit wäre dann auch bereits die wesentliche Wirkungsidee des lösungsorientierten Fragens und insbesondere der „Wunderfrage“ beschrieben (die weit mehr beinhaltet, als häufig in ihrer sehr verkürzten Form dargestellt wird und eher einen Fragenkomplex darstellt[4]). „Wenn der Klient eine zunehmend komplexe und detaillierte Beschreibung seiner Lösung entwickelt, tun sich wahrscheinlich auch Wege auf, wie dieser anvisierte Zustand erreicht werden kann.“[5]
In der konkreten Ausgestaltung hypothetischer Fragen bieten sich verschiedene Variationen des Grundprinzps an. Sonja Radatzunterscheidet vier verschiedene Formen hypothetischer Fragen[6]:
Hypothetische Wechselwirkungen:
• „Angenommen, Sie würden Ihr Kind ab heute immer für seine Schulleistungen loben, - wie würde es reagieren?“
Prüfung von Auswirkungen:
• „Angenommen, Sie würden ab heute überhaupt kein Alkohol mehr trinken, was würde sich für Sie ändern?“
Hypothetische Ziel-Weg-Verknüpfung:
• „Angenommen, wir wären schon am Ende der Beratung und sie wäre sehr erfolgreich für Sie gelaufen: Was hätten Sie in dieser Beratung Neues erfahren?“
• „Angenommen Sie befänden sich ein Jahr nach dem Zeitpunkt, zu dem Sie ihre Ehe erfolgreich retten konnten – berichten Sie, wie Sie dies hinbekommen haben.“
Hypothetische Personen:
• „Angenommen, nicht Sie, sondern ein erfolgreicher Topmanager würde statt Ihnen morgen Ihren Vortrag halten. Was würde er anderes tun als Sie?“
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[1] Angelehnt an: Radatz, Sonja (2013): Beratung ohne Ratschlag: Systemisches Coaching für Führungskräfte und BeraterInnen. 8., unveränd. Aufl., Wien, S. 208.
[2] Schmidt, Gunther (2020): Einführung in die hypnosystemische Therapie und Beratung. 9. Aufl., Heidelberg, S. 88.
[3] Schmidt, Gunther (2019): Das Orchester der Sinne nutzen für erfolgreiche „Lösungssinfonien“ – Hypnosystemische multisensorische Strategien für kraftvolle Lösungen. In: Bohne, Michal u.a. (Hg.): Reden reicht nicht!? Bifokal-multisensorische Interventionsstrategien für Therapie und Beratung. 2. Aufl, Heidelberg, 171-216, S. 189.
[4] Eine typische verkürzte Variante ist etwa: „Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgen auf und Ihr Problem ist verschwunden. Was hat sich verändert?“
[5] De Shazer, Steve / Dolan, Yvonne (2013): Mehr als ein Wunder: Lösungsfokussierte Kuztherapie heute. 3., unveränd. Aufl., Heidelberg, S. 216.
[6] Radatz, a.a.O, S. 209.
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