Wider dem Narrativ der Systemsprenger oder: „Obacht! Man denkt und tut, was man sagt!“ (Elisabeth Wehling) [1]

Spätestens seit dem gleichnamigen Film (N. Fingerscheidt 2019) hat sich der Begriff „Systemsprenger“ für „die Schwierigsten“ oder das „Hoch-Risiko-Klientel“ (Wikipedia) auch jenseits der Fachdiskussionen in Psychiatrie, Jugendhilfe u.ä. im allgemeinen Sprachgebrauch etabliert. Über die Herausforderungen und einen guten und hilfreichen Umgang mit „Systemsprengern“, über pädagogische Konzepte und strukturelle Bedarfe wird im Kontext von Jugendhilfe sowohl in Fachartikeln als auch im alltäglichen Sprachgebrauch kommuniziert. Ich konnte z.B. selbst an einer Tagung teilnehmen, in der unter dem TOP „Umgang mit herausfordernden jungen Menschen in der Jugendhilfe“ v.a. JugendamtsleiterInnen ihre enormen Schwierigkeiten und auch Hilflosigkeit gegenüber „Systemsprengern“ z.T. sehr dramatisch und anschaulich beschrieben. Die strukturellen und konzeptionellen Herausforderungen sind ohne Frage enorm. Darauf möchte ich hier auch gar nicht weiter eingehen und das grundsätzlich in Frage stellen. Was mich an der Diskussion jedoch stört, ist unser Sprachgebrauch, dem ich hiermit ein kleines Plädoyer für alternative Etikettierungen entgegenhalten möchte.

 

Worum geht es, wenn wir über „Systemsprenger“ sprechen? Gemeint sind hiermit Kinder und Jugendliche, „die verschiedene pädagogische Akteure in unterschiedlichen Handlungsfeldern vor vielfältige Herausforderungen in der aktuellen Praxis stell[en]. Junge Menschen, die Systeme sprengen, zeigen aus Sicht der Hilfesysteme oft gewaltförmige oder verfestigte selbst­ und fremdverletzende Verhaltensmuster und / oder weisen Drogen und Substanzmissbrauch, massiv distanziertes und aversives Verhalten oder schwerste traumatische Erlebnisse auf. Dies kennzeichnet eine Zielgruppe, die sowohl im fachwissenschaftlichen als auch pädagogischen Handlungsfeld als so genannte ´Systemsprenger´ bezeichnet wird, …“[2] „Die Entwicklung (und Manifestierung) eskalierender Verhaltensweisen bis zur Sprengung des Systems beschreibt dabei einen Interaktionsprozess zwischen diesen jungen Menschen und dem sie umgebenden Hilfesystem …“[3] Solche Beschreibungen und Definitionen beinhalten nach meiner Einschätzung die große Gefahr, dass sie den beschriebenen Kindern und Jugendlichen als Persönlichkeitsmerkmale anhaften bleiben und einer massiven Defizitorientierung Vorschub leisten. Diese Gefahr sehen scheinbar auch Autoren, die sich der Begrifflichkeit der „Systemsprenger“ bedienen. Menno Baumann weist z.B. u.a. darauf hin: „Wenn ein junger Mensch erst einmal als schwierig im Hilfesystem definiert ist, ist die Auflösung dieser Etikettierung äußerst schwer.“[4] Und nach Frank Mücher „impliziert diese Frage [nach der Funktion von „Systemsprengern“] zunächst einmal die Überwindung einer defizitorientierten Sichtweise, nach der die Gründe für das Scheitern von Hilfen primär dem Individuum bzw. dessen eigenem Fehlverhalten  zugeschrieben werden.“[5] Trotzdem hat sich der Begriff etabliert und zwar sowohl in der Fachwelt als auch – spätestens nach dem Erfolg des gleichnamigen Films von Nora Fingscheidt (2019) – im allgemeinem medialen und gesellschaftlichem Sprachgebrauch. Dies geschieht sicher in guter Absicht und weist u.a. auf die großen Herausforderungen von Trägern, Einrichtungen und Fachkräften, die mit entsprechend anspruchsvollen Zielgruppen arbeiten. Die Risiken, die mit diesem Sprachgebrauch für diese Zielgruppe einhergehen, sind aus meiner Sicht jedoch scheinbar weitgehend unreflektiert und gegenüber ihren Bedarfen kontraproduktiv.

 

Worte und Sätze aktivieren (immer) einen Deutungsrahmen („Frame“), der über die eigentliche Wortbedeutung hinausgeht. Solche sog. Framing-Effekte führen u.a. zu systematischen Beurteilungsfehlern. Es macht einen Unterschied, ob man von seinem Arzt hört: „Die Überlebenswahrscheinlichkeit liegt im ersten Monat nach der Operation bei 90 %“ oder „die Sterblichkeit liegt innerhalb des ersten Monats nach der Operation bei 10 %.“[6] Und wenn ich über eine Flüchtlingswelle spreche, dann transportiert dieser Begriff auch – gewollt oder nicht – implizite Wortbedeutungen und -assoziationen zum Wortteil „Welle“: groß, mächtig, Urgewalt, unaufhaltsam, bricht Dämme, reißt alles mit, kommt über einen, man kann ertrinken, … o.ä. Als Leserin möge man die Überlegung anstellen, was einem spontan alles zu dem Begriff „Corona“ einfällt … Ich vermute, die Bedeutungen lt. Duden i.S. von 1. „Strahlenkranz der Sonne“ und 2. „Gruppe, Ansammlung von [jüngeren] Menschen, die gemeinsam etwas unternehmen; [fröhliche] Schar; Gruppe randalierender o. ä. Jugendlicher; Horde“[7] gehören vermutlich eher nicht zu den ersten Assoziationen. Außerdem vermute ich, dass solche Überlegungen vor fünf Jahren zu gänzlich anderen Ergebnissen geführt hätten. „Wenn Frames [jedoch] erst mal in unseren Köpfen aktiviert sind, dann bestimmen sie, mit welcher Leichtigkeit Informationen von uns aufgenommen werden.“[8]

 

Wenn also der Wortframe „Systemsprenger“ sich im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen etabliert, „bei denen Erziehungshilfemaßnahmen von Seiten der betreuenden Jugendhilfeeinrichtungen abgebrochen wurde, da das Kind/ der Jugendliche aufgrund schwerwiegender Verhaltensstörungen nicht zu betreuen erschien und somit den Rahmen der Erziehungshilfe gesprengt hat [sic!]“[9], stellt sich die Frage, welche Deutungsrahmen hiermit – bewusst oder nicht – transportiert werden und Wirkung entfalten: Es sind ja kaum gewaltigere und zerstörerische Vorgänge als eine Sprengung vorstellbar, weshalb diese nicht zuletzt im militärischen Bereich Anwendung findet. Und es werden (neben offensichtlich auch „Systemen“) Gebäude, Brücken, Berge und leider auch Menschen gesprengt. Und in vorliegendem Fall ist es dann also ein einzelnes Kind, dass ein ganzes Jugendhilfesystem sprengt …

 

Friedhelm Peters bringt meine Bedenken auf den Punkt: „Kein*e Jugendliche*r bezeichnet sich selbst so, und trotz der relativierenden Einlassungen wirkt der Begriff ´naturalisierend´ und schreibt fehlende Passungsverhältnisse zwischen Hilfeangeboten und Interaktionen von jungen Menschen als feststehende Eigenschaften der Person zu […]“[10] Aus meiner Sicht transportiert dieser Frame damit eine völlig verdrehte Sicht von sozialen Machtverhältnissen und Ursache- und Wirkungszusammenhängen und hat mit dem, was zeitgleich unter Begrifflichkeiten wie „Inklusion“ und „inklusiver Jugendhilfe“ diskutiert wird, wenig an Haltung gemein. Die Umwelt (Kindergarten, Jugendtreff, Heimeinrichtung, …) soll der Idee der Inklusion folgend so gestaltet sein, dass gesellschaftliche Teilhabe für jeden und jede möglich ist. „Es muss bei der Inklusion also niemand mehr eingegliedert werden, weil niemand zuvor ausgegliedert wurde“, spitzen Sabine Knauer und Jörg Ramseger diese Abgrenzung etwas provokant zu.[11] Das System soll sich den Bedarfen der Individuen anpassen, nicht umgekehrt! Das Wortkonstrukt „Systemsprenger“ konterkariert diese Idee und suggeriert dagegen, dass ein einzelnes Kind all die fördernden und inkludierenden Bemühungen eines kompletten Helfersystems infolge seiner „schwerwiegenden Verhaltensstörungen“ zunichtemacht und zerstört („sprengt“!). In (nochmals!) völliger Anerkennung der Herausforderungen, die auch das Verhalten einzelner Kinder und Jugendlicher für das Hilfesystem mit sich bringt, ist dies aus meiner Sicht die „falsche“ Geschichte, die hier erzählt wird – „falsch“ im Sinne von „nicht hilfreich“.

 

Das Narrativ der „Systemsprenger“ macht etwas mit den Kindern und Jugendlichen, die damit etikettiert werden: „Wer man ist und wie man handelt, ist geprägt von den Geschichten, die man von sich erzählt.“[12] Und es ist kaum anzunehmen, dass dieses Narrativ nicht das Selbstbild der betroffenen Kinder und Jugendlichen beeinflusst. Und umgekehrt werden auch die beteiligten HelferInnen in Ihren Sicht- und Handlungsweisen kaum unberührt bleiben: „Beschreibungen verändern das Beschriebene.“[13] In diesem Sinne möchte ich hier nachdrücklich für den kompletten Verzicht auf das Narrativ der sogenannten „Systemsprenger“ plädieren.



[1] Wehling, Elisabeth (2018): Politisches Framing. Köln, S. 65.

[2] Bolz, Tijs / Albers, Viviane / Baumann, Menno (2019): Professionelle Beziehungsgestaltung in der Arbeit mit „Systemsprengern“. In: unsere jugend, (71) 7+8, S. 297-304, S. 297.

[3] A.a.O., S. 298.

[4] A.a.O.

[5] Mücher, Frank (2015): Was kann und muss die Jugendhilfe von Systemsprengern/-innen lernen. In: dreizehn, (14) S. 30-35, S. 31.

[6] Kahnemann, Daniel (2012): Schnelles Denken, langsames Denken. München, S. 115.

[8] Wehling 2018, S. 34.

[9] Baumann, Menno (2020): Kinder, die Systeme sprengen: Band 1: Wenn Jugendliche und

Erziehungshilfe aneinander scheitern. Baltmannsweiler, S. 13.

[10] Peters, Friedhelm (2020): Der Konstruktionsprozess der „Schwierigen“ - das Beispiel der sogenannten „Systemsprenger*innen“. In: Forum Erziehungshilfen, (26) 2, 113-116, S. 115.

[11] Knauer, Sabine / Ramseger, Jörg (o.J.): Vorbemerkungen. In: Welchen Beitrag leistet die schulische Integration von Menschen mit Behinderungen auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt? Welche soziale Bedeutung und welche ökonomischen Perspektiven sind damit verbunden? Ergebnisse eines Expertenhearings zusammengestellt von Sabine Knauer und Jörg Ramseger in Kooperation mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und mit freundlicher Unterstützung der AUDI AG. (Zit. n. www.behindertenbeauftragter.de, 30.12.2010.).

[12] Denborough, David (2017): Geschichten des Lebens neu gestalten. Grundlagen und Praxis der narrativen Therapie. Göttingen, Bristol, S. 18.

[13] v. Schlippe, n. Hargens, Jürgen (2011): Aller Anfang ist ein Anfang. Gestaltungsmöglichkeiten hilfreicher systemischer Gespräche. 4. Aufl., Göttingen, S. 9.

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